©Achim Lerch 1998. Dieser Bericht ist auch im Tourenfahrer 8/98 (S. 96-102) erschienen.
Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de
Wo der Seele Flügel wachsen
Grenzenlose Freiheit über den Wolken, scheinbar schwereloses
Gleiten durch den Himmel, der Sonne entgegen: Der uralte Menschheitstraum
vom Fliegen. Doch in diesem Fall endet er vor der Küste Kretas
jäh mit einem Sturz ins Meer. Den Warnungen seines Vaters
Daidalos zum Trotz, nähert sich Ikarus übermütig
der Sonne allzusehr, die Hitze bringt das Bienenwachs zum schmelzen,
welches die Konstruktion aus Federn zusammenhält, die der
griechischen Mythologie zufolge den ersten Flug der Menschheitsgeschichte
ermöglichte. Zum Glück sind heutige Fluggeräte
etwas zuverlässiger, und so landen wir an diesem heiligen
Abend sicher in der kretischen Hauptstadt Heraklion. Am Flughafen
werden wir schon von Yannis Flouris erwartet, der es sich nicht
nehmen ließ, uns persönlich abzuholen und zum Hotel
zu bringen. Vorher gibt es selbstverständlich einen Begrüßungsschnaps
im Büro seines Motorradverleihs, wo wir noch an diesem Abend
die Leihmaschinen übernehmen.
Nachdem wir endlich eine offene Tankstelle gefunden haben, verlassen
wir Heraklion am nächsten Morgen in südlicher Richtung.
Die Sonne scheint aus blauem Himmel, der Einzylinder ballert vor
sich hin und sofort stellen sich Urlaubsgefühle ein, macht
sich Entspannung bemerkbar. Auf menschenleeren Nebenstraßen
touren wir durch die Berge, passieren kleine Dörfer, in
denen der Weihnachtsschmuck angesichts des strahlenden Sonnenscheins
fast irreal wirkt. Und obwohl es wohl keinen passenderen Tag als
den ersten Weihnachtsfeiertag gibt, um die berühmte Ikone
des Klosters Agarathou zu bewundern, sind wir in der Klosterkirche
neben einer kretischen Familie die einzigen Besucher. Das Bildnis
ist durchaus etwas besonderes, zeigt es doch eine stillende Mutter
Gottes - eigentlich die natürlichste Sache der Welt, und
dennoch erstaunlich für eine orthodoxe Kirche, deren Mönche
noch 1985 Darwins "gottlose" Evolutionstheorie aus den
Schulbüchern verbannt wissen wollten.
So verwurzelt die griechich-orthodoxe Kirche in ihren alten Glaubenssätzen
ist, so typisch ist bis heute das Erscheinungsbild ihrer Mönche:
Ein mächtiger grauer Bart umrahmt das wettergegerbte Gesicht,
in dem die Augen freundlich strahlen. Unter der schwarzen Kutte
wölbt sich ein runder Bauch und die Füße stecken
in groben, aber blitzblank geputzten Stiefeln: So sitzt uns der
Mönch von Agarathou gegenüber, schenkt großzügig
aus der Rakiflasche ein und schiebt den Teller mit selbstgebackenen
Weihnachtsplätzchen zu uns herüber. Er hatte uns sofort
in seine kleine Wohnstube gewunken, nachdem er uns im Klosterhof
entdeckt hatte. Die Gastfreundschaft des vierundachtzigjährigen
Gottesmannes wirkt beinah beschämend, als er uns von seiner
Zeit als Zwangsarbeiter unter der deutschen Besatzungsmacht erzählt.
Doch ganz ohne Gram zeigt er uns ein altes vergilbtes Foto und
freut sich diebisch, als ich ihn neben einem deutschen Unteroffizier
darauf erkenne. Wir müssen uns schließlich regelrecht
losreißen, um einer weiteren Runde Raki zu entgehen und
so unsere Fahrtüchtigkeit zu erhalten. Direkt hinter dem
Kloster beginnt eine einsame Schotterstraße, und die leichte
Enduro unter mir relativiert schnell die Gedanken an die Vorzüge
des ruhigen und einsamen Klosterlebens.
Trotz der verzehrten Kekse verspüren wir langsam Hunger,
und in einer kleinen Taverne bei Nirov Chani fragen wir nach etwas
Eßbarem. Zwar gebe es bei ihm keine Speisen, meint der freundliche
Wirt, doch müßten wir unbedingt zunächst etwas
mit ihm und seinen Gästen trinken. Schließlich habe
er selbst elf Jahre in Aschaffenburg gelebt und freue sich besonders,
um diese Jahreszeit Deutsche zu treffen. Kaum haben wir Platz
genommen, tischt er, der doch eigentlich kein Speiselokal betreibt,
Teller mit knusprig gebratenem Schweinefleisch, eingelegter Leber,
Tomaten und Weißbrot auf. Dazu eine Flasche Olivenöl
und die drei Kreter, die am Nachbartisch auf ihre Art Weihnachten
feiern, bestellen gleich noch eine Runde Getränke. Mein Versuch,
mich anschließend zu revanchieren, scheitert kläglich:
Schließlich seien wir zu Gast auf Kreta. Wir kapitulieren,
können wenigstens eine Kleinigkeit für das köstliche
Mahl bezahlen, und treten schließlich gestärkt den
Rückweg nach Heraklion an.
Wenn etwas das Landschaftsbild auf Kreta bestimmt, dann sind es
die 26 Millionen Olivenbäume. Und um die dreht sich um die
Weihnachtszeit das Leben fast aller Familien auf der Insel: Seit
Anfang November ist die Ernte in vollem Gange, unzählige
Netze sind unter den bis zu 1000 Jahre alten Bäumen ausgebreitet,
und den ganzen Tag werden die dunklen Früchte von den Bäumen
geschüttelt. In Embaros, wo wir die Seitenständer ausklappen
um im Kafénion einen griechischen Mokka zu genießen,
läuft auch an diesem zweiten Weihnachtsfeiertag die Olivenpresse,
um das "grüne Gold", das kretische "ládi"
zu pressen. Kenner schätzen beim Olivenöl die erste
Pressung ("parthéno elaiólado"), und niemand
auf der Welt verzehrt so viel davon wie die Kreter. Freilich sind
nicht alle Pflanzen so genügsam wie der Olivenbaum, und Obst-
und Gemüsegärten bedürfen in diesen Breitengraden
der Bewässerung, wofür sich venezianische Ingenieure
im 16. Jahrhundert etwas ganz besonderes ausdachten: Auf der 840
Meter hoch gelegenen Lasíthi-Ebene installierten sie 14.000
mit weißem Segeltuch bespannte Windräder, mit deren
Hilfe Grundwasser an die Oberfläche gepumpt wurde. Mittlerweile
haben Dieselpumpen oder moderne Windmühlen mit Metallrotoren
die Arbeit übernommen, und der an ein überdimensionales
Margeritenfeld erinnernde Anblick dieser Windmühlen bleibt
alten Postkarten vorbehalten. Doch als wir nach dem Aufstieg über
eine herrliche und anspruchsvolle Schotterstrecke in die wie in
einem Krater liegende grüne Hochebene hinabfahren, sind wir
dennoch beeindruckt. In etwa diesen Anblick dürften die Augen
des kleinen Zeus als erstes erblickt haben, der nach der Überlieferung
in der oberhalb der Hochebene gelegenen Psichró-Höhle
geboren wurde. Sein Leben verdankt der griechische Gott übrigens
den "Kureten", kretischen Geistern und Dämonen:
Zeus´ Vater Kronos hatte die unschöne Angewohnheit,
seine Kinder zu verspeisen, weshalb Rhea, Zeus´ Mutter, in
die Höhle geflüchtet war und Kronos statt des Neugeborenen
einen in Windeln gewickelten Stein unterschob. Der bemerkte jedoch
den dreisten Betrug und suchte wutentbrannt überall nach
seinem Sohn. Sobald der kleine Zeus aber zu schreien anfing, veranstalteten
die Kureten mit ihren Schildern und Speeren einen Höllenlärm,
um das Geplärr zu übertönen. Der Plan funktionierte
und Kronos fand seinen Stammhalter nicht.
Nicht zuletzt diese Geschichte lockt Jahr für Jahr Tausende
von Touristen in die Lasíthi-Ebene, doch wir haben die
Straße durch die grüne Gartenlandschaft, auf der sich
im Sommer die Reisebusse stauen, dank der Jahreszeit für
uns allein. Und auch im Restaurant, in dem wir uns Lammkoteletts
mit den typischen "patátes", den groben, direkt
aus der rohen Knolle geschnittenen Pommes frites, schmecken lassen,
sind wir die einzigen Gäste. Kreta ist touristisch im Winterschlaf,
und das ist gut so. Nach dem köstlichen Mahl verlassen wir
die Ebene über den von Ruinen steinerner Windmühlen
bewachten Ambelos-Afhin-Paß und genießen die herrliche
Straßenführung, die uns, von einer Schräglage
in die nächste wechselnd, zurück zur Küste bringt.
Solchen Kurvenspaß sollte man auf Kreta allerdings gemächlich
genießen, da der teilweise spiegelglatte Asphalt allzu forsche
Schräglagen unerbittlich bestraft.
Bestrafungen der besonders subtilen Art spielen auch in der griechischen
Mythologie, die hier auf Kreta so besonders lebendig ist, immer
wieder eine bedeutende Rolle: Um bei seinem Volk seinen Anspruch
auf die Alleinherrschaft zu unterstreichen, braucht der in Knossós
regierende Zeus-Sohn Minos dringend ein Wunder. Er verspricht
deshalb seinem Onkel, Zeus´ Bruder Poseidon, ein Sonderopfer,
wenn er ihm in dieser Angelegenheit behilflich sei. Und tatsächlich
läßt dieser vor den Augen der Menge einen mächtigen
weißen Stier aus den Meeresfluten emporsteigen. Das Volk
ist gebührend beeindruckt, doch anstatt den Stier verabredungsgemäß
zu opfern, behält Minos ihn für sich und läßt
für Poseidon einen gewöhnlichen Bullen schlachten. Poseidon
reagiert mit einer infamen Rache: Er läßt Minos´
Frau Pasiphae in wilde Leidenschaft für den Stier verfallen.
Mit Hilfe einer hohlen hölzernen Kuhattrappe, die der geniale
Daidalos für Pasiphae konstruiert, kommt es zur folgenschweren
Vereinigung von Stier und Königsgattin. Diese gebiert daraufhin
Minotauros, das Monster mit Stierkopf und Männerkörper.
Der betrogene Minos läßt schließlich ein besonderes
Gefängnis für das Ungetüm errichten, und wieder
ist es der "Mann für besondere Aufgaben", Daidalos,
den er beauftragt: Dieser konstruiert das berühmte Labyrinth
im Palast von Knossós, in welchem der Minotauros gefangen
gehalten wird. Man braucht allerdings schon sehr viel Phantasie,
damit die Geschichte in den Ruinen des Palastes lebendig wird,
die der britische Archäologe Arthur Evans Anfang des Jahrhunderts
bei Grabungen entdeckt und mit reichlich Beton rekonstruiert hat.
Dabei nahm er es historisch wohl nicht allzu genau, was ihm reichlich
Kritik in der Fachwelt einbrachte. Dem Touristenansturm, der sich
zu Hochsaisonzeiten im Gänseschritt durch die Anlage schiebt,
tut dies allerdings keinen Abbruch.
Nach soviel Kultur zieht es uns wieder in den Motorradsattel,
und wir verlassen Knossós und Heraklion in westlicher Richtung.
Die eingeschlagene Route bringt dabei Gegensätze der besonderen
Art mit sich: Zunächst windet sich die Straße über
Tylissos und Gonies in die Berge und bei Anógia, wo wir
es wegen des kalten Windes vorziehen den obligatorischen Mokka
am Ofen zu genießen, zweigt eine Straße ab in ein
Skigebiet in den schneebedeckten Oros-Idi-Bergen. Doch nur einen
kurzen Dreh am Gasgriff weiter geht es über Perama wieder
hinunter ans tiefblaue Meer und schließlich entlang der
Küste nach Rethimnon, dessen alter venezianischer Hafen ohne
Zweifel zu den schönsten seiner Art auf Kreta gehört.
Wir genießen die warme Luft und die Atmosphäre des
Hafens gleichermaßen und lassen uns in einem der zahlreichen
kleinen Restaurants direkt an der Hafenpromenade einen kleinen
Imbiß schmecken. Den direkten Vergleich zum nicht minder
schönen Hafen in Chania können wir dann nur wenige Stunden
später beim ausgedehnten Abendessen ziehen. Der Blick fällt
dabei auf die Janitscharen-Moschee, Zeugnis der türkischen
Besetzung 1645 und offensichtlich dem Verfall preisgegeben. Herzlich
war das Verhältnis zwischen Griechen und Türken im Verlauf
der Geschichte wohl nie, und bis heute wird die Feindschaft gepflegt,
am deutlichsten wohl im andauernden Zypernkonflikt.
Am nächsten Morgen zeigt sich dann die Schattenseite einer
Kretatour außerhalb der Saison: Der Blick aus dem Hotelzimmer
zeigt einen wolkenverhangenen Himmel aus dem es beständig
regnet. Doch wie als Zeichen der Versöhnung zeigen sich kurz
nach unserem Aufbruch bereits wieder erste schüchterne Sonnenstrahlen
und zaubern einen Regenbogen in den Himmel. So bringt dieser Tag
dann auch keinen Dauerregen, sondern eine Mischung aus Schauern
und Sonnenschein - damit läßt es sich Ende Dezember
durchaus leben. Unsere Route führt uns an diesem Tag zunächst
durch eine der unzähligen Schluchten Kretas nach Theriso,
wo eine Schotterpiste über Zouvra nach Meskla abzweigt. Der
feuchte Boden läßt zwar nur gemäßigtes Tempo
zu, doch ist der Weg ansonsten problemlos befahrbar. Der kleine
Ort Meskla kündigt sich durch Orangenplantagen an, in denen
die Bäume sich unter der Last der reifen Früchte zu
biegen scheinen. Unsere erste Mokka-Pause verbringen wir geschützt
unter dem Vordach eines kleinen Kafénions, auf das gerade
ein kräftiger Schauer niederprasselt, und zum Kaffee lassen
wir uns frisch gepflückte Orangen schmecken, die der Wirt
uns nebst ein paar Nüssen unaufgefordert serviert hat. Über
Omalos erreichen wir schließlich am Eingang der berühmten
Samaria-Schlucht den höchsten Punkt unserer Reise. Dort ist
es dann allerdings wirklich ziemlich kalt, und der Regen vermischt
sich mit Schnee, der auch links und rechts der Straße liegenbleibt.
In der Schlucht selbst hängen Wolken und Nebelschwaden, und
so ist der Anblick nicht ganz so beeindruckend wie erwartet. Wir
halten uns deshalb auch gar nicht lange auf und kehren den Lefká
Ori, den "weißen Bergen" den Rücken, gönnen
uns nur noch eine Aufwärmpause in einem kleinen Kafénion
an der Straße. Die ganze Familie sitzt um den wärmenden
Ofen, doch bei unserem Eintritt werden sofort die besten Plätze
freigemacht, und mit dem dampfenden Mokka werden selbstgebackene
Weihnachtsplätzchen gereicht. So gestärkt und gewärmt
treten wir die Rückfahrt nach Chania bei aufreißendem
Himmel an.
Wie es in Kreta in der Hauptsaison zugehen mag, davon vermitteln
uns die kilometerlang entlang der Küstenstraße aneinandergereihten
Touristenburgen westlich von Chania einen kurzen Eindruck. Wir
sind regelrecht froh, bei Máleme nach Süden abzubiegen
und durch die Berge bis nach Paleohora an der Südküste
zu fahren. Wir gönnen uns - wie könnte es anders sein
- einen Mokka in einem der Straßencafés des hübschen
Ortes und genießen den heute wieder strahlend blauen Himmel.
Durch die nahe Sahara beeinflußt ist es hier an der Südküste
auch gleich spürbar wärmer, und die Beine ausgestreckt
vergessen wir beinahe die Zeit. Etwas von dem kretischen Lebensgefühl
scheint allmählich auf uns abzufärben. Irgendwann raffen
wir uns schließlich doch zur Rückfahrt auf. Der Weg
führt über Voutas, Kamatera und Ahorndiko. Kurz hinter
dem Ort zweigt rechts ein steiler Schotterweg ab. Ich kann der
Versuchung nicht widerstehen und verordne Claudia eine Zigarettenpause.
Ungefähr zwei Kilometer folge ich dem anspruchsvollen Pfad
über grobes Geröll. Soweit man den weiteren Verlauf
einsehen kann, scheint er als Kammstraße zurück zur
Küste zu führen. Doch für heute kehre ich um, beschließe,
mir den Weg für eine spätere Gelegenheit zu merken -
schließlich werde ich erwartet. Bei Kolimbari erreichen
wir wieder die Nordküste und wir machen noch einen Abstecher
nach Afrata, wo wir der kretischen Lebensart entsprechend eine
weitere Kaffeepause einlegen, bevor wir zurück nach Chania
fahren. Zu dieser kretischen Lebensart zählt vor allem auch
eine besondere Herzlichkeit, und Nikos, der seit 1940 ein kleines
Restaurant im Hafen von Chania betreibt, stehen die Tränen
in den Augen, als wir uns an diesem unserem dritten Abend verabschieden.
Noch ein letztes mal müssen wir mit Raki aus halbvollen Wassergläsern
mit ihm anstoßen und felsenfest versprechen, eines Tages
wiederzukommen. Seine Herzlichkeit vermissen wir schon einen Tag
später, als wir nach der längsten Etappe der Reise an
der Rezeption des pikfeinen Golfhotels in Elounda ob unserer staubigen
Motorradkluft abschätzig gemustert werden.
Die Route an diesem Tag hatte uns zunächst an der Nordküste
entlang bis Rethimnon geführt, wo wir nach Süden abbogen.
Die Südküste Kretas erreichten wir dann bei Agia Galini,
einem schönen, im Sommer aber auch stark von Touristen frequentierten
Hafenstädtchen. Doch um diese Jahreszeit "parken"
auf dem Parkplatz am Hafen statt Reisebussen die Fischerboote,
die hier ihr Trockendock für den Winter gefunden haben. Bei
einer ausgedehnten Pause ließen wir uns die Sonne auf den
Pelz brennen und setzten dann die Fahrt über Mires, Pirgos,
Ierapetra und Agios Nikolaos nach Elounda fort. Zwar haben wir
deutlich das Gefühl, nicht so recht in das spießig-vornehme
Hotel zu passen, doch ist die Auswahl an offenen Unterkünften
im Winter gering und das Zimmer entschädigt mit einem schönen
Ausblick auf die Küste und die gegenüberliegende Leprainsel
Spinalonga. 1903 wurde hier in den Mauern der aus dem 16. Jahrhundert
stammenden venezianischen Festung eine Leprakolonie errichtet,
in der die "Aussätzigen" aus ganz Griechenland
interniert und weitgehend sich selbst überlassen wurden.
Erst in den vierziger Jahren kam eine Krankenstation hinzu, 1957
wurde die Kolonie schließlich ganz geschlossen.
Auf dem weiteren Weg zur Ostküste der Insel sollte man als
Endurist unbedingt bei Kanoussi die Küstenstraße verlassen
und auf den Schotterweg über Melisses und Bembonas nach Chrisopigi
abbiegen: Es wartet ein fahrerischer und landschaftlicher Hochgenuß.
Das Sträßchen windet sich durch einsame Berglandschaft,
gibt dabei immer wieder hinter einer Kehre plötzlich den
Blick frei zurück auf die Küste. Nachdem Claudia, die
hier auf Kreta ihre ersten Enduroerfahrungen überhaupt sammelt,
bei der Abfahrt auch noch grobes Geröll meistern mußte,
hat sie sich die längere Pause, die wir in Sitia einlegen,
redlich verdient. Nach der Rückfahrt auf der Küstenstraße
verbringen wir diesen Sylvesterabend mit einer Flasche Wein auf
dem Balkon unseres Hotelzimmers, denken dabei mit Schaudern an
die Temperaturen, die jetzt wohl daheim gemessen werden. Die Schlußetappe
zurück nach Heraklion am nächsten Tag führt uns
dann noch an Kritsa und der Ruinenstadt Lato vorbei, die Ausgrabungsstätte
ist allerdings geschlossen. Auch die Lasíthi-Ebene, der
wir uns diesmal von der anderen Seite nähern, beziehen wir
noch einmal in die Route ein, genießen die Abfahrt ein zweites
Mal. Unser Aufenthalt auf Kreta neigt sich leider dem Ende entgegen,
und beinahe wehmütig denke ich zurück an das milde Wetter,
die herrliche Landschaft und vor allem die herzliche Gastfreundschaft
der Kreter, als ich im Flugzeug Platz nehme und nach dem Gurt
taste. Kaum abgehoben, dreht der Pilot die Boeing scharf nach
rechts, über die Tragfläche blicke ich direkt ins dunkelblaue
Meer. "Jetzt nur nicht der Sonne zu nahe kommen", denke
ich bei mir, schließlich möchten wir noch einmal zurückkommen.
Wir haben es Nikos doch versprochen!
Achim Lerch