©Achim Lerch 1996.
Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de
Noch etwas schläfrig schlürfe ich meinen zweiten Cappuccino,
langsam erwachen die Lebensgeister, und die Müdigkeit, die
mir nach einer unbequemen Nacht an Bord der "Clodia"
noch in den Knochen steckt, verfliegt allmählich. Außer
mir ist nur noch ein weiterer Gast in der kleinen Bar an der SS
No 199 kurz hinter Olbia, der - vermutlich auf dem Weg zur Arbeit
- noch schnell einen Espresso im Stehen nimmt. Vor einer knappen
halben Stunde bin ich aus dem Bauch der Fähre gerollt, zehn
Tage Sardinien liegen nun vor mir. An der Wand hinter meinem Tisch
hängt eine übergroße Sardinienkarte, und freudig
bemerke ich, daß ich die geplante Strecke nach Tempio Pausina
durch einen Umweg über eine "Strada biancha", wie
die zahlreichen unbefestigten Schottersträßchen auf
der Insel genannt werden, etwas auflockern kann. Nur wenige Kilometer
hinter meiner "Frühstücksbar" zweigt bei Berchidda
tatsächlich ein Fahrweg ab, und zufrieden fahre ich durch
sanfte Hügel, vorbei an friedlich vor sich hin grasenden
Schafherden. Von den wolligen Tieren gibt es auf Sardinien immerhin
fast doppelt so viele wie Einwohner, und so wird mich dieser Anblick
ebenso wie die Sinfonie aus Blöken und bimmelnden Glocken
auch die nächsten Tage noch begleiten.
Nach ca. 20 Kilometern mündet der Schotterweg auf die SS No 127 nach Tempio, dem Hauptort der Gallura, wie der nordöstliche Landesteil der Insel heißt. Die Straße führt vorbei an tausenden von Korkeichen, die mit ihren abgeschälten Stämmen einen eigentümlichen Anblick bieten. Kork zählt zu den Hauptausfuhrprodukten Sardiniens, und die Wahrscheinlichkeit, daß man beim Öffnen eines edlen Tröpfchens ein Stück Gallura unter dem Korkenzieher hat, ist groß. Die Rindenstücke werden aus der ganzen Gegend, meist auf klapprigen Kleinlastwagen, nach Tempio gebracht und dort weiterverarbeitet.
Ich fahre weiter auf der schönen und kurvigen SS No 392 Richtung
Oschiri, bis auf dem Col de Limbara links ein Schotterweg abzweigt.
Der Brandwächter, der an der Kreuzung seinen vermutlich langweiligen,
aber aufgrund der zahlreichen Waldbrände wichtigen Job verrichtet,
bestätigt meine Vermutung, daß der Weg zum Monte Limbara-Massiv
führt. Zwar warnt er mich vor der sehr schlechten Wegstrecke,
doch nach einem nochmaligen kritischen Blick auf die groben Stollenreifen
meiner Enduro wünscht er mir schließlich eine gute
Fahrt. Man kann die Höhen des Limbara-Massivs auch auf einer
asphaltierten Stichstraße zum Monte Balistreri erreichen,
doch ist dieser Weg natürlich viel interessanter - auch wenn
er, entgegen den Warnungen des Brandwächters, völlig
problemlos zu befahren ist. Oben angekommen hat man in gut 1300
m Höhe einen herrlichen Blick über die gesamte Gallura,
dazu kommen die für Sardinien so typischen skurrilen und
bizarren Steinformationen, so daß es wirklich eine Lust
ist, auf Schotterwegen, vorbei an einem kleinen Stausee, durch
diese Berglandschaft zu fahren. Einst hat Gott, so erzählen
die Sarden, die Insel am sechsten Tag der Schöpfung aus einem
Haufen übriggebliebener Steine geformt.
Der Weg führt mich schließlich in einem großen
Bogen wieder zurück nach Berchidda, von wo eine weitere Schotterstraße
zum Lago del Cochingas führt. Der Stausee wurde 1926 angelegt,
um die feuchten Küstengebiete trockenzulegen und so die Malaria
auszurotten. Nach einer ausgiebigen Pause am einsamen Seeufer
setze ich meine "Kreuz-und Quer-Fahrt" durch die Gallura
fort und gelange über Oschiri, Prattada, Ali dei Sardi und
Padru schließlich am Nachmittag nach San Teodoro, wo ich
mich auf dem Campingplatz einmiete. 220 Kilometer habe ich auf
der Strecke von Olbia hierher zurückgelegt, auf der Küstenstraße
sind es 30. Doch gerade diese "Umwege" sind es, die
den Reiz der Insel (und eigentlich des Motorradfahrens überhaupt)
ausmachen.
Am nächsten Morgen "gönne" ich mir dann doch
die viel befahrene Küstenstraße nach Olbia, um von
dort weiter entlang der berühmt-berüchtigten Costa Smeralda
die Nordspitze der Insel zu umrunden. Die rege Bautätigkeit,
die von anhaltendem Tourismusboom zeugt, wird von den Einheimischen
mit gemischten Gefühlen betrachtet. Sehen die einen sprudelnde
Einnahmequellen, befürchten die anderen weitere Naturzerstörung
und zunehmenden Identitätsverlust. Natürlich kann ich
es mir nicht verkneifen, hin und wieder einen der schmalen Erdwege
einzuschlagen, die von der Küstenstraße abzweigen und
nach teilweise recht steilen Anstiegen auf Bergkuppen führen,
von denen man einen herrlichen Blick auf die zerklüftete
Küste und das blaue Meer genießen kann. Zumeist enden
diese Wege allerdings als Sackgasse an den Zäunen von Privatgrundstücken,
und man muß den gleichen Weg zurückfahren. Im malerischen
Hafen von Palau fröne ich meiner Vorliebe für Cappuccino,
und während ich den Geschichten einiger Segler am Nachbartisch
lausche, träume ich ein wenig von der weiten Welt... Über
das Capo Testa, wo sich die Touristen tummeln, und weiter über
eine "Strada biancha" von Pto. Pezzo nach Aglientu führt
mich der Weg schließlich zurück nach San Teodoro.
Zerklüfteter und bizarrer als die insgesamt eher sanfte Gallura
präsentieren sich am nächsten Tag die Gebirgszüge
im Süd-Osten der Insel. In Siniscola biege ich von der Küstenstraße
ab und gelange nach einigen herrlichen und kurvenreichen Kilometern
bei Cant. di St. Anna an eine Abzweigung, wo linkerhand eine "Strada
biancha" nach Lula beginnt. Diese führt nun unterhalb
des schroffen Gipfel-Massivs des Monte Albo durch die einsame
Berglandschaft, ich genieße herrliche Aussichten und den
typischen Duft der Maccia. Motorradfahren auf Sardinien wird,
ebenso wie auf der Nachbarinsel Korsika, auch mit dem Geruchssinn
erlebt. Von Lula fahre ich, von einer Schräglage in die nächste
wechselnd, weiter über Onani, Bitti und Nuoro nach Oliena
am Fuße des Sopramonte Massivs. Hier beginnt eine anspruchsvolle
Schotterstraße, die sich mit den bekannten "Enduro-Schmankerln"
in den französisch/italienischen Alpen durchaus messen kann,
und die als Sackgasse unterhalb des 1463 m hohen Pt. Corrasi endet.
Von hier hätte man sicher einen herrlichen Blick, doch ich
muß diesmal mit tiefhängenden Wolken vorliebnehmen.
Das sich durch mächtiges Grollen ankündigende Gewitter
veranlaßt mich, nach nur kurzer Gipfelpause wieder talwärts
zu fahren. Die Freude, dem Gewitter noch einmal entgangen zu sein,
währt allerdings nur kurz: der Regen holt mich auf dem Rückweg
nach San Teodoro rasch ein und zwingt mich in die Regenkombi.
Am nächsten Tag breche ich meine Zelte in San Teodoro ab
um das "Basislager" nach Süden zu verlegen. Entlang
der Küste fahre ich zunächst bis Arbatax, wo die "Roten
Felsen", eine in dieser Form einmalige Gesteinsformation,
malerisch aus dem Wasser ragen. Da der Campingplatz in Arbatax
trotz Nachsaison noch über 20 DM für die Übernachtung
verlangt, fahre ich noch ein Stück weiter nach Orri, wo ich
auf dem Camping "Lido Orri" für unter 10 DM unterkomme.
Das Zelt steht nur 100 Meter vom Strand und so kann ich den Tag
noch mit einem Bad im angenehm temperierten "Mar Tirreno"
beschließen.
Orgosolo, der kleine Ort im Herzen der Gennargentu-Berge, gilt als der Hort des sardischen Banditentums. Hier häufen sich die in ganz Sardinien anzutreffenden murales, die auf chilenische Vorbilder zurückgehenden Wandgemälde, die die politische und wirtschaftliche Bevormundung der Sarden durch die Italiener anprangern. "Wer vom Meer kommt, stiehlt" - auf diese einfache und bittere Formel haben die Sarden ihre Erfahrungen aus langen Jahren leidvoller Geschichte gebracht. Ob Khartager im 5. Jahrhundert v. Christus, die Römer 238 v. Christus, ob Mauren und Spanier im Mittelalter, ob Franzosen unter Napoleon oder schließlich die Italiener - alle kamen, und okkupierten insbesondere das fruchtbare Küstenland. Den eigentlichen Einwohnern blieb zumeist nur der Rückzug in die karge Berglandschaft, wo sie unter harten Bedingungen ihr Leben fristeten. Dadurch entwickelte sich der besondere sardische Stolz und die "Omerta", das Gesetz des Schweigens, und die "Vendetta", die Blutrache, wurden zum ungeschriebenen Gesetz des sardischen Bergvolks. Als sich dann in den 60er Jahren vor allem die Bewohner Orgosolos gegen Pläne der italienischen Regierung wehrten, den Sopramonte zum Nato-Truppenübungsplatz zu machen und unter anderem mit den murales auf ihre Probleme aufmerksam machten, trug ihnen dies ungerechtfertigterweise den Ruf des Banditentums ein. Dieser Ruf und die Schauergeschichten von Omerta und Vendetta locken nun seit Jahren ganze Busladungen von Touristen in den Ort, die ihren Strandurlaub durch etwas Nervenkitzel aufpeppen wollen. Natürlich ist die Geschichte von den Banditen mehr Legende als Wirklichkeit, doch die Tourismusindustrie verdient gut daran. Der einzige wirkliche Bandit an diesem Tag dürfte wohl ein deutscher Motorradfahrer gewesen sein, der als Kurvenräuber die Gegend unsicher machte...
Auf dem Rückweg nach Orri führt mich ein Abstecher an
den Lago Alto di Flumendosa am Fuße des Punta la Mámora,
mit 1834 Meter über NN Sardiniens höchster Berg. Zwar
führt laut Karte keine Straße oder Piste auf den Gipfel,
trotzdem übt die höchste Erhebung der Insel natürlich
einen besonderen Reiz aus. Ich schlage also eine Piste ein, auf
der ich zumindest der groben Richtung nach zum Gipfel zu gelangen
hoffe. Leider bleibt es beim Wunsch - die Piste führt in
großem Bogen um den Berg herum, dabei immer deutlich unterhalb
des Gipfels verlaufend und endet schließlich vor einem Zaun.
Ich bereue den Abstecher dennoch nicht, da der Fahrweg sowohl
landschaftlich reizvoll als auch teilweise fahrerisch anspruchsvoll
ist. Von weiteren Versuchen der "Gipfelstürmung"
sehe ich für diesen Tag ab, da die einsetzende Dämmerung
zur Rückkehr zum Campingplatz mahnt.
Am nächsten Tag kehre ich über Lanusei zurück an
den Lago Alto di Flumendosa, um von dort auf einer schönen
einspurigen Straße nach Cant. Arcueri zu gelangen. Auf einer
Paßhöhe zweigt dann nach links eine neue Straße
ab, die ich in meiner Karte nicht finden kann - keine Frage, sie
gilt es zu erkunden. Nach wenigen Kilometern reizt rechterhand
eine abzweigende "Strada biancha", der ich folge. Sie
schlängelt sich um einen Bergrücken immer etwas oberhalb
der pittoresk und eng gewunden durch die Berglandschaft verlaufenden
Eisenbahnlinie, die von Arbatax nach Cagliari führt. Häufig
halte ich an, um den Blick auf Tunnel und Brückenbauten zu
werfen - von meinem erhöhten Standpunkt wirkt das ganze wie
eine Spielzeugeisenbahn und in meinem Kopf erklingt das Lied von
Lummerland, Jim Knopf und dem Lokomotivführer.
Die Schotterstraße mündet schließlich wieder
in der neuen Asphaltstraße, mittlerweile weiß ich
nicht mehr so ganz, wo ich eigentlich bin. Ich folge der Straße
weiter und lande wenig später an einem hohen Zaun und einem
gewaltigen Eisentor. Das Tor ist offen, ich zögere kurz,
sehe aber dann in der Richtung, in der die Straße weiter
verläuft, einen verlockenden Berggipfel, auf dem deutlich
Aufbauten und Antennen zu erkennen sind. Ich fahre also weiter
und tatsächlich zweigt wenig später links ein steil
ansteigender Schotterweg in Richtung Gipfel ab. Nach ca. 2 Kilometern
und vier sehr engen und steilen Kehren kurz vor dem Gipfel erreiche
ich ein Observatorium. Weit und breit ist niemand zu sehen, die
Aussicht ist phantastisch. Nach diesem Abstecher wieder zurück
auf der Asphaltstraße folge ich dieser weiter talwärts
und lande schließlich abermals an einem Zaun inklusive -
zum Glück wiederum offenem - Tor. Hinter dem Tor verläuft
die SS No 198, wie mir ein Kilometerstein anzeigt und beim Blick
zurück leuchten mir deutliche Verbotsschilder entgegen. In
einem großen Bogen fahre ich schließlich über
Gairo, Seui, Laconi, Nurri, Escalaplano und Jerzu zurück
nach Orri.
Den südlichsten Punkt meiner Sardinienreise erreiche ich
am nächsten Tag bei Murravera. Auf dem Weg dorthin wartet
hinter Ballao eine Enttäuschung: die in der Karte verzeichnete
kurvenreiche "Strada biancha" ist einer neuen Schnellstraße
gewichen. Ich tröste mich mit einem Strandabstecher im Mündungsgebiet
des Foce del Flumendosa. Die letzten Urlaubstage vergehen dann
wie im Fluge, zu den fahrerischen und landschaftlichen Höhepunkten
zählt die am steilen Fels verlaufende Strecke von Villagrande
nach Talana. Mächtige, mannshohe Steinbrocken auf der Straße,
die fast die gesamte Fahrbahnbreite einnehmen, verleihen dem Schild
"Vorsicht Steinschlag" eine ganz neue Bedeutung. Von
Talana über Urzulei führt mich dann ein letzter "Schotterabstecher"
auf den 1256 m hohen Mont Pisaneddu, noch einmal genieße
ich die herrliche Aussicht. Über Fonni und Macomer führt
mich schließlich die letzte Tour an die Westküste nach
Bosa, von dort entlang der Küste über Alghero nach Porto
Torres. Während ich bei einem letzten Cappuccino auf die
abendliche Abfahrt der Fähre warte, bleibt Gelegenheit, noch
einmal tief durchzuatmen, die letzten Tage Revue passieren zu
lassen und alle Eindrücke zu speichern - die Landschaft aus
Stein, den Duft der Maccia und natürlich das leise Blöken
der Lämmer...
Achim Lerch
Sehr schöne Sardinienfotos gibt es auch bei Markus Treichl, der die Insel mit dem Bully bereist.
Eine weitere Seite zu Sardinien mit Reiseberichten hat Stephan Gries erstellt: