Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de
Doch dann kam jener 9. November 1989, an dem sich alles
veränderte. Und plötzlich war Afrika uninteressant, lockte nicht nur
ein anderer Kontinent, sondern geradezu eine Reise auf einen anderen Stern. Doch noch war etwas Geduld gefordert, auch revolutionäre Veränderungen brauchen ihre Zeit:
Zunächst waren Motorräder,
die mit ihrem Nimbus von Freiheit und Abenteuer der DDR-Führung schon
immer suspekt waren, von der neuen Reisefreiheit ausgenommen. Mehrmals wurde
ich an der Grenze zurückgeschickt. Dann, am 19. Dezember, meldete die
Lokalzeitung, dass nun auch Krafträder in die DDR einreisen dürften.
Zu der Zeit noch Student, ließ ich die Vorlesung Vorlesung sein, schnitt die Zeitungsmeldung aus, zog die lange Unterhose an und fuhr los.
Am Grenzübergang bei Hohengandern wusste man
leider noch nichts von der neuen Regelung und es erforderte doch einige
Diskussion und die Zuziehung des Vorgesetzten, bis die hiesigen Vertreter der Grenzschutztruppen, die ich um ihre damalige Situation nicht beneide, die Autorität
meines Zeitungsausschnittes akzeptierten und mich durchließen. Es war der
wohl spannendste Grenzübertritt meines Lebens, die Stimmung kaum richtig zu beschreiben: gegenseitige Neugier war wohl das dominierende
Gefühl. Und dass ich jedes technische Detail der Suzuki erläutern
musste, versteht sich fast von selbst.
Nach der Grenze dann der Zeitsprung: Alles kam mir vor, wie
in Filmen aus den fünfziger Jahren – als wäre die Zeit stehen
geblieben. Alle Sinne nahmen die fremden Eindrücke auf, z.B. der
unvergessliche, allgegenwärtige Zweitaktgeruch. Und ich erinnere mich
auch, dass man der staubigen Luft wegen nicht lange mit offenem Visier fahren
konnte – zu den Autoabgasen gesellten sich Ruß und Rauch aus
ungezählten Kohlefeuerungen und Fabrikschornsteinen. Die schlechten
Straßen dagegen waren für einen Endurofahrer
geradezu willkommen. Mein erster Halt dann im Heilbad Heiligenstadt, und sofort
war ich umringt von neugierigen Menschen (vor allem, aber nicht nur Kindern),
die sich für das vermutlich erste japanische Motorrad in ihrem Ort
interessierten. Nachdem alle diesbezüglichen Fragen beantwortet waren, schlenderte ich durch die weihnachtlich geschmückte
Fußgängerzone, aß für umgerechnet etwa 20 Pfennig West
meinen ersten Broiler und war einfach nur fasziniert. Hier gab es soviel zu
entdecken, eine ganz neue Welt, direkt vor der Haustür. Und obendrein bei den in
diesem Herbst üblichen Umtauschkursen zwischen West- und Ostmark
spottbillig. In dieser Zeit war ich nur selten in der Uni und stattdessen
häufig in Thüringen zu finden.
Nach dem Besuch von Heiligenstadt hatte ich an diesem 19.
Dezember zunächst noch ein weiteres Ziel: Die Burg Hanstein,
unmittelbar an der Grenze gelegen und auch vom Westen aus zu sehen. Damals noch kein touristischen Ziel, dafür
konnte ich mit der DR direkt bis in den Burghof fahren. Ein Handwerker, der
dort arbeitete, schaltete nach einem ausgiebigen Ost-West-Gespräch
(natürlich auch über japanische Motorräder im allgemeinen
und Suzukis DR 600 im besonderen) das Licht im Turm für mich ein und ermöglichte mir so den abenteurlichen Aufstieg über die baufällige Treppe. Von der
Turmhöhe fiel mein Blick auf die gegenüber, im Westen gelegene Burg
Ludwigstein, und auf die monströsen Grenzanlagen zwischen diesen beiden steinernen Zeugen
deutscher Geschichte. Dass ich an diesem Tag selbst Zeuge dieser Geschichte
wurde, kam mir erst sehr viel später so richtig zu Bewusstsein.