Kradtour ins Reich der Frustrierten

©Achim Lerch 2006

Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de


Kradtour ins Reich der Frustrierten (de.rec.motorrad 16.08.2005, kurz, nachdem Edmund Stoiber die Bewohner der neuen Bundesländer als "Frustrierte" bezeichnete, die nicht noch einmal eine Wahl entscheiden dürften...)

Ich habe mir nichts dabei gedacht, als der Kollege vor geraumer Zeit Erfurt als Treffpunkt für eine Projektbesprechung vorschlug. Für uns beide Bahn-technisch gut erreichbar, und falls das Wetter gut ist, so dachte ich mir damals, kann ich das Krad nehmen und den beruflichen Termin mit einer gemütlichen Sommertour durch´s Thüring´sche verbinden.

Doch, o weh, was musste ich dann in den letzten Tagen erfahren über diese finstere Gegend, in die ich mich da wagen sollte. Frustriert sind die Menschen dort, verwahrlost, zwangsproletarisiert und gewaltbereit, heißt es. Herrje, was würde mich da erwarten? Würden halb verweste Säuglingsleichen meinen Weg pflastern? Würden gewaltbereite Ostkradisten den in 4 Jahrzehnten MZ-fahren aufgestauten Frust an mir auslassen, mich von der BMW zerren und mit Zschopauer Altmetall steinigen?

Mit entsprechend mulmigen Gefühl mache ich mich auf den Weg, passend dazu wabert im Werratal bedrohlich der Nebel, Kälte kriecht den Rücken hoch und als ich bei Hohengandern die Grenze in jenes Schattenreich überquere, geht ein Schaudern durch meinen ganzen Körper. Und dann passiert es: nämlich zunächst gar nichts. Bis Mühlhausen gehört die Strecke eh zur erweiterten Hausstrecke, die Weiterfahrt über Bad Langensalza nach Erfurt ist eher ereignislos, und auch als ich zum Tanken anhalten muss, finden keinerlei gewalttätigen Übergriffe statt. Nur die Kassiererin schaut, so will mir scheinen, etwas frustriert. Kann aber auch einfach an der frühen Morgenstunde liegen...

In Erfurt dann besetzen Kollege und ich einen Tisch im Restaurant des Intercity-Hotels, wundern uns zunächst, das keine Bedienung in Sicht ist. Egal, Labtop raus und an die Arbeit, kurz darauf erscheint eine sehr junge (und sehr hübsche) Kellnerin, die sich laut ihrem Namensschild als Auszubildende erweist - und die so gar nicht frustriert aussieht. Den bestellten Cappuccino serviert sie ebenso prompt wie freundlich, nur als wir nach etwas Essbarem fragen erklärt sie bedauernd, dass es nichts gebe, weil das Restaurant eigentlich geschlossen hat. Oha, das haben wir irgendwie übersehen. Da wir uns nun aber schon einmal ausgebreitet haben, arbeiten wir einfach die nächsten zweieinhalb Stunden weiter. Als die hübsche junge Dame uns schließlich doch höflich rausschmeißt, sind wir eh gerade fertig...

Da ich nun schon einmal da bin, schau ich mir noch etwas die (hübsche) Altstadt von Erfurt an. Auch bei diesem Stadtbummel und während ich bei einem weiteren Cappuccino in einem kleinen Café sitze, kommen mir die Menschen, die ich sehe, ganz normal vor. Auch wenn ich in den Gesichtern krampfhaft nach Anzeichen von Gewaltbereitschaft suche, nach Spuren der Verwahrlosung im Äußeren - ich kann nix derartiges erkennen. Aber ich bin natürlich auch nicht so klug, wie die Bevölkerungsteile in Bayern...

Jetzt aber noch ein bisschen Motorradfahren: Gen Norden führt mich der Weg, vorbei am schönen Weissensee mit der imposanten Runneburg, durch Kindelbrück, wo die Apfelbäume in Reih und Glied stehen und einen intensiven Obstduft verbreiten, nach Bad Frankenhausen, wo sich alles um den alten Barbarossa zu drehen scheint und ins Kurvengewimmel am Kyffhäuser. Unterhalb des gleichnamigen Denkmals kommt ein Eiscafé gerade recht, nachdem es nunmehr doch auch von den Temperaturen richtig sommerlich ist. Den Aufstieg zur in Stein nachgebildeten Kaiserkrone in Motorradklamotten schenke ich mir, auch wenn die Aussicht wahrlich kaiserlich sein soll. Ich beobachte stattdessen lieber die feschen Kellnerinnen, die - nicht etwa frustriert, sondern überaus freundlich und routiniert - die diversen Rentner-Reisebusgesellschaften auf Kaffeefahrt bedienen.

Genug von Friedrich und Wilhelm, wer will schon unsere alten Kaiser wieder haben. Lieber die Kurven hinunter nach Kelbra genießen, dortselbst rumdrehen und gleich wieder zurück. Wenn ich schon mal da bin. Die weitere Rückfahrt über Sondershausen und Leinefelde ist dann wieder eher ereignislos.

Fazit: Hübsch ist´s in Thüringen, und das nicht nur im Thüringer Wald. Und wirklich frustriert ist wohl vor allem ein gescheitereter Ex-Kanzlerkanditat aus Bayern. Vielleicht ist er aber auch nur neidisch, weil Thüringer Rostbratwurst so viel besser schmeckt als Münchner Weißwurst...


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