Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de
"Man ist mit allem ganz in Fühlung. Man ist mitten
drin in der Szene, anstatt sie nur zu betrachten, und das Gefühl
der Gegenwärtigkeit ist überwältigend. Der Beton,
der da fünf Zoll unter den Füßen durchwischt,
ist echt, derselbe Stoff, auf dem man geht, er ist wirklich da,
so unscharf zwar, daß er sich nicht fixieren läßt,
aber man kann jederzeit den Fuß darauf stellen und ihn berühren;
man erlebt alles direkt, nichts ist auch nur einen Augenblick
dem unmittelbaren Bewußtsein entzogen."
Mit diesen Worten beschreibt Robert M. Pirsig in einem der schönsten
Bücher über das Motorradfahren ("Zen und die Kunst
ein Motorrad zu warten") das besondere Erlebnis dieser einzigartigen
Form der Fortbewegung. Und jeder Motorradfahrer wird seine Worte
bestätigen können: wer kennt nicht dieses Außenstehenden
nur so schwer zu vermittelnde überwältigende Gefühl
des realen Erlebens von Raum und Zeit und - so abgedroschen und
kitschig dies klingen mag - von Freiheit.
Motorradfahren ist dabei vor allem auch Naturerlebnis, auch wenn
manche (typisch deutsche?) Puristen bei einer solchen Äußerung
die Nase rümpfen mögen. Motorradfahrer erleben, "erfahren"
Natur - hautnah und unmittelbar: Der Wind im Gesicht, der angenehm
kühlender Fahrtwind ebenso sein kann wie beißend kalter
Herbststurm oder beklemmend heißer Wüstenwind; der
ungeliebte Regen, der sich selbst bei bester Ausrüstung irgendwann
einen Weg zum Körper sucht und die ersehnten Sonnenstrahlen,
die alles wieder trocknen und die Lebensgeister neu erwecken.
Was weiß der vollklimatisierte Autofahrer von einer Paßfahrt,
bei der man Kehre um Kehre spürt, wie die Luft mit zunehmender
Höhe dünner und kälter wird, um dann bei der Talfahrt
die wieder zunehmende Wärme mit dem ganzen Körper gierig
aufzunehmen?
Oder denken wir an die unterschiedlichen Gerüche, durch die
der Motorradfahrer seine Umgebung noch intensiver wahrnimmt: an
den Duft einer frisch gemähten Wiese entlang der Landstraße,
den Geruch des Meeres auf gewundenen Küstenstraßen,
den Duft eines Pinienwaldes oder Eukalyptushaines auf der Urlaubstour,
oder gar den intensiven, kaum zu übertreffenden Geruch korsischer
Maccia.
Und schließlich das Fahren selbst: das unmittelbare Erlebnis
von Bewegung, von Beschleunigung und Verzögerung; das ständige
gegeneinander Ausspielen von Schwerkraft und Fliehkraft in jeder
Kurve - auch das ist "Naturerlebnis" in einem ganz realen
Sinne, das Erlebnis von Naturgesetzen, wie es keine andere Art
der Fortbewegung zu vermitteln vermag.
Was schon für den täglichen Weg zur Arbeit oder die
sonntägliche Ausfahrt gilt, das verstärkt sich um ein
vielfaches auf der großen Tour: Reisen mit dem Motorrad,
das ist Reisen in seiner schönsten und intensivsten Form.
Und welches andere Fortbewegungsmittel vereinigt wie das Motorrad
intensivstes Erleben von Landschaften, Menschen und Kulturen mit
einem Höchstgrad an Mobilität und großer Reichweite
einerseits und vergleichsweise geringer Umweltbelastung andererseits?
(Wieder mögen die Puristen die Nase rümpfen - doch bleibe
ich dabei: das Motorrad zählt für mich zu den umweltfreundlichsten
Reisefahrzeugen).
"Wenn man mit dem Motorrad Ferien macht, sieht man die
Welt mit anderen Augen an." Wieder findet Pirsig die
richtigen Worte. Und ich möchte hinzufügen: Wer mit
dem Motorrad reist, wird mit anderen Augen gesehen. Immer
wieder macht man als Motorradfahrer die Erfahrung, daß über
das Motorrad der Kontakt zu den Einheimischen erleichtert wird.
Ein gewisses Maß an Anerkennung spielt dabei, so meine Erfahrung,
eine große Rolle: Die Menschen erkennen, daß da jemand
sich ganz auf sie und ihr Land einläßt, ohne schützende,
oft protzige Blechhülle daherkommt, ohne demonstrative Distanz.
Ob Grenzbeamte oder Tankwarte, Café-Besitzer oder Gemüseverkäufer
(ganz abgesehen von bewundernden Blicken aus großen Kinderaugen)
- nie habe ich erlebt, daß ein Autoreisender auch nur mit
halb soviel Interesse und Wohlwollen bedacht worden wäre,
wie es mir immer wieder zuteil wurde, ganz gleich, wie verschwitzt
und verstaubt ich gerade war. Und immer wieder ist das Motorrad
Anlaß für den Beginn eines Gesprächs - Hürden
der Kommunikation werden mühelos überwunden, wenn es
um technische Details oder die bereits zurückgelegte Strecke
geht.
Natürlich gibt es auch die umgekehrte Erfahrung, natürlich
stand auch ich schon pudelnaß in tropfender Regenkombi an
der Rezeption eines augenscheinlich leeren Hotels und wurde "mit
Bedauern" belehrt, daß kein Zimmer frei sei. Und natürlich
ist der unmittelbare Kontakt zu den Menschen nicht immer positiv,
etwa, wenn man an Steine werfende Kinder in Nordafrika denkt.
Doch erstens gehören beide Dinge untrennbar zusammen, ist
das eine nicht ohne das andere zu bekommen, und zweitens überwiegen,
jedenfalls für mich, die positiven Erfahrungen bei weitem!
Dazu kommt die persönliche Befriedigung und Selbstbestätigung,
die darin liegt, das fremde Land "selbst" zu erkunden,
sich die Erfahrungen ein Stück weit aktiv zu erarbeiten,
anstatt sie nur passiv zu konsumieren. Jedenfalls vermag eine
Pauschalreise kaum jenes Gefühl tiefer Befriedigung zu vermitteln,
das einen nach den bestandenen Tagesmühen einer Motorradreise
umfängt - sei es eine besonders anstrengende und alles Fahrkönnen
fordernde Piste, die man bewältigt hat, seien es die Unbill
des Wetters denen man getrotzt hat oder die schwierige Navigation,
die einem in unbekanntem Terrain geglückt ist. Motorradfahren,
zumal auf großer Reise, wird somit zur "Selbsterfahrung"
- jenseits irgendwelcher esoterischer "Psychogrüppchen"
und tiefanalytischer Diskussionzirkel.
Es scheint mir dabei auch zweitrangig, ob man nun einsame Sahara-Pisten,
steile Schotterpässe oder "gewöhnliche" Landstraßen
unter die Räder nimmt, ob man in ferne Länder reist
oder vor der eigenen Haustür tourt: Was zählt, ist das
Ausloten der eigenen Grenzen und das beständige Erweitern
des eigenen Horizonts. Das - und nicht Tempo 300 - ist für
mich Freiheit auf zwei Rädern.
Möge also, abermals in Anlehnung an Pirsig, die Maschine,
die mich schon so weit getragen hat, munter weiterbrummen, wie
eh und je nichts anderes achtend als ihre eigenen inneren Kräfte
und mich noch ein gutes Stück durch Raum und Zeit tragen.
Das wünsche ich auch allen anderen Motorradfahrern!
Achim Lerch