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Honig war leer, und unser Hausimker konnte nicht liefern, weil die Bienen bei diesem besch...eidenen Sommer streiken. Hätte eh mal wieder Appetit auf Lavendelhonig, in der Provence ist der Sommer bestimmt besser und auf dem Weg liegen obendrein die Westalpen. Anfrage bei den üblichen Verdächtigen: Keiner hat spontan Zeit. Aber da mich die Route auch an Genf vorbei führt, verabrede ich mich kurzerhand mit Francois Marie Arouet an seinem Chateau bei Genf. In diesen Zeiten, in denen man bei einem Blick in die Tageszeitungen an der Menschheit zweifelt, wenn nicht verzweifelt, ist Francois Marie genau der richtige Reisepartner: Nicht umsonst gilt er geradezu als Sinnbild für die Vernunft, von der wir so dringend mehr benötigen und sein Künstlername steht gewissermaßen als Synonym für die europäische Aufklärung: Voltaire. Um Platz für meinen Reisegefährten zu lassen (auf dem Motorrad wie im Kopf), lasse ich die Film- und Fotoausrüstung bewusst zu Hause, die Frage nach der richtigen Perspektive will ich mir nicht photographisch, sondern philosophisch stellen, ein paar Schnappschüsse mit dem Mobiltelefon müssen zur Dokumentation genügen, die geneigten Leserinnen und Leser mögen mir dies nachsehen.
Den Start der Tour muss ich - typisch für diesen Sommer - wegen strömenden Regens ein paar Stunden verschieben, trocken komme ich trotzdem nicht in die Vogesen, übernachte unplanmäßig schon direkt bei Straßburg. Das Hotel "Mr. Bed" ist nichts für die Freunde des gehobenen Logis, aber trocken und für französische Verhältnisse günstig. Die Frage, die ich mir beim Abendessen stelle: Darf man nach der Lektüre des Candide optimistisch sein und auf besseres Wetter hoffen? Ich bin es, und wir behalten beide recht: Voltaire, weil es auch am nächsten Tag regnet, und ich, weil es auch trockene Phasen gibt und am Lac de Joux sogar einmal kurz Sonnenschein. Voltaire treffe ich an seinem Schloss, das gerade renoviert wird und komplett eingerüstet daher kommt. Er ist wohl froh, der Baustelle zu entfliehen und mich auf der Motorradtour zu begleiten. Nach einem Blick auf die berühmte Fontäne im Genfer See (die gab es zu Voltaires Lebzeiten noch nicht) nehmen wir noch die Gorges des Eveaux unter die Räder und nehmen schließlich Quartier in Grand Bornand. Bei einer Pizza bringe ich Francois Marie, der auf seinem Chateau in den letzten Jahren nicht viel von der Außenwelt mitbekommen hat, grob auf den neuesten Stand des Weltgeschehens, was ihn aber wenig überrascht: "Die Geschichte der Welt ist zugleich die Geschichte des Fanatismus", hat er schon seinerzeit notiert.
Candide zum Trotz scheint am nächsten Tag die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, das passende Wetter für die fahrerischen Leckerbissen, die wir uns zu Gemüte führen: Col des Aravis, Col des Saisies, Cormet de Roselend, Col de la Madeleine, Col du Glandon, Col d'Ornon, Col de Parquetout, Col Bayard und Col d'Allos. Ein Zimmer finden wir schließlich im alten Ort Allos und zum Abendessen gibt es einen leckeren Auflauf mit Kartoffeln und reichlich vom kräftigen regionalen Käse. Mehr als gut gesättigt, mit den Händen seinen Bauch reibend, gibt mein Begleiter zum Nachtisch dieses Bonmot zum besten: "Merkwürdig, das Denken hängt unbedingt vom Magen ab, trotzdem sind die besten Mägen nicht immer die besten Denker".
Der nächste Morgen bringt wieder strahlenden Sonnenschein, und die Temperaturen steigen auf dem Weg nach Castellane merklich an. Nachdem der Lavendelhonig dort gekauft und im Koffer verstaut ist, geht es zu einem Höhepunkt der Tour: Dem Grand Canyon du Verdon. Mit Worten schwer zu beschreiben, deshalb lasse ich es. Stundenlang könnte ich hier am Canyonrand sitzen und staunen. Doch während zahlreiche Schriftsteller sich durch die Großartigkeit der Natur inspirieren ließen, betrachtet Voltaire die Dinge eher nüchtern: "Die Natur ist stumm, man befragt sie vergeblich". Soll wohl heißen, dass wir weiterfahren sollen. Also gut: setzen wir noch einen drauf. Die anschließend befahrene Daluis-Schlucht ist mit ihren Felsnadeln in diesem einzigartigen rot beinah noch beeindruckender als der Canyon, da kann man die folgenden Landschaftseindrücke am Col de la Cayolle und Col du Vars kaum noch aufnehmen. Wir beschließen den Tag dann auch unmittelbar nach der Passhöhe in Vars. Im Garten des Hotels "Les Escondus" stehen Liegestühle bereit, in denen man ganz wunderbar die Eindrücke des Tages verarbeiten kann.
Was am darauffolgenden Tag ansteht, könnte man unter "Hausstrecken" zusammenfassen: Durch die regelmäßige Teilnahme an der Stella Alpina sind die Pässe des Tages wohlbekannt, was den Genuss aber keineswegs trübt: Col d'Izoard, Col de Montgenevre, Col du Mont Cenis, Col de l'Iseran, kleiner und großer St. Bernhard. In Martigny verabschiede ich mich von Voltaire, er will per Anhalter zurück nach Ferney. Hoffentlich findet er genügend Menschen, die bereit sind, ihn ein Stück Weges mitzunehmen und ihm ein wenig zuzuhören! Für mich ist dann der Col des Mosses noch ein sanfter Tagesausklang, bevor ich das Motorrad in der Garage der "Post" in Zweisimmen abstelle.
Am nächsten Abend bin ich in Durlach mit Franky verabredet, meinem Freund und Canyon-Guide von 2013, es wird ein feucht-fröhlicher Tour-Abschied beim "Vogel". Am Ende dann, kurz vor Kassel, behält Candide doch noch recht: Aus einem grauen kalten Himmel ergießt sich der Regen, als wolle er jeden Rest Optimismus wegspülen. Man könnte beinahe Angst bekommen, der Sommer wird gar nichts mehr, aber Voltaire hat ja auch das geschrieben: "Ich finde, von allen Geißeln ist die Angst die schlimmste". Vielleicht sollte man also doch hoffen, auf besseres Wetter, und darauf, dass die Vernunft doch irgendwann siegt...
Bild: Chateau Voltaire in Ferney-Voltaire, nahe Genf
Neben dem Motorrad die wichtigsten Utensilien für diese Tour: Wegweiser für Straßen und Geist
Lac de Roselend
Grand Canyon du Verdon
Schräger Humor oder eine philosophische Einstellung zum Tod? Am Motorradhotel "Zur Post" in Zweisimmen