Thüringenpremiere 1989

©Achim Lerch 2004.

Kritik, Anregungen: lerch@wirtschaft.uni-kassel.de


Reise zu einem anderen Stern

schicksalhafte Zeitungsmeldung Längst hat der Alltag uns wieder, längst hat die Euphorie einer breiten Ernüchterung Platz gemacht, und montags wird nicht mehr gegen einen totalitären Staat, sondern gegen Sozialreformen (oder Sozialabbau, je nach Standpunkt) demonstriert. Trotzdem - oder gerade deshalb – lohnt vielleicht eine Erinnerung an diesen schicksalhaften Herbst 1989. Für mich wie für alle anderen Motorradfahrer aus der Zonenrandstadt Kassel (von manchen auch boshaft als die westlichste Großstadt der DDR bezeichnet), war es schon eine kuriose Situation: Man konnte das Motorrad satteln, und Tausende Kilometer nach Norden, Süden oder Westen fahren. Ob Nordkap oder Afrika, alles war, genügend Sitzfleisch vorausgesetzt, problemlos zu erreichen. Aber in Richtung Osten war nach 20 Kilometern Schluss. Keine Chance, den antifaschistischen Schutzwall (oder eisernen Vorhang, wieder je nach Standpunkt) zu überwinden. Wie oft haben wir an dieser Grenze gestanden, mit der wir aufgewachsen waren, und die wir trotzdem nicht verstanden.

 

Ankunft in Heiligenstadt Doch dann kam jener 9. November 1989, an dem sich alles veränderte. Und plötzlich war Afrika uninteressant, lockte nicht nur ein anderer Kontinent, sondern geradezu eine Reise auf einen anderen Stern. Doch noch war etwas Geduld gefordert, auch revolutionäre Veränderungen brauchen ihre Zeit: Zunächst waren Motorräder, die mit ihrem Nimbus von Freiheit und Abenteuer der DDR-Führung schon immer suspekt waren, von der neuen Reisefreiheit ausgenommen. Mehrmals wurde ich an der Grenze zurückgeschickt. Dann, am 19. Dezember, meldete die Lokalzeitung, dass nun auch Krafträder in die DDR einreisen dürften. Zu der Zeit noch Student, ließ ich die Vorlesung Vorlesung sein, schnitt die Zeitungsmeldung aus, zog die lange Unterhose an und fuhr los. Am Grenzübergang bei Hohengandern wusste man leider noch nichts von der neuen Regelung und es erforderte doch einige Diskussion und die Zuziehung des Vorgesetzten, bis die hiesigen Vertreter der Grenzschutztruppen, die ich um ihre damalige Situation nicht beneide, die Autorität meines Zeitungsausschnittes akzeptierten und mich durchließen. Es war der wohl spannendste Grenzübertritt meines Lebens, die Stimmung kaum richtig zu beschreiben: gegenseitige Neugier war wohl das dominierende Gefühl. Und dass ich jedes technische Detail der Suzuki erläutern musste, versteht sich fast von selbst.

 

Heiligenstadt Nach der Grenze dann der Zeitsprung: Alles kam mir vor, wie in Filmen aus den fünfziger Jahren – als wäre die Zeit stehen geblieben. Alle Sinne nahmen die fremden Eindrücke auf, z.B. der unvergessliche, allgegenwärtige Zweitaktgeruch. Und ich erinnere mich auch, dass man der staubigen Luft wegen nicht lange mit offenem Visier fahren konnte – zu den Autoabgasen gesellten sich Ruß und Rauch aus ungezählten Kohlefeuerungen und Fabrikschornsteinen. Die schlechten Straßen dagegen waren für einen Endurofahrer geradezu willkommen. Mein erster Halt dann im Heilbad Heiligenstadt, und sofort war ich umringt von neugierigen Menschen (vor allem, aber nicht nur Kindern), die sich für das vermutlich erste japanische Motorrad in ihrem Ort interessierten. Nachdem alle diesbezüglichen Fragen beantwortet waren, schlenderte ich durch die weihnachtlich geschmückte Fußgängerzone, aß für umgerechnet etwa 20 Pfennig West meinen ersten Broiler und war einfach nur fasziniert. Hier gab es soviel zu entdecken, eine ganz neue Welt, direkt vor der Haustür. Und obendrein bei den in diesem Herbst üblichen Umtauschkursen zwischen West- und Ostmark spottbillig. In dieser Zeit war ich nur selten in der Uni und stattdessen häufig in Thüringen zu finden.

 

Burg Hanstein Nach dem Besuch von Heiligenstadt hatte ich an diesem 19. Dezember zunächst noch ein weiteres Ziel: Die Burg Hanstein, unmittelbar an der Grenze gelegen und auch vom Westen aus zu sehen. Damals noch kein touristischen Ziel, dafür konnte ich mit der DR direkt bis in den Burghof fahren. Ein Handwerker, der dort arbeitete, schaltete nach einem ausgiebigen Ost-West-Gespräch (natürlich auch über japanische Motorräder im allgemeinen und Suzukis DR 600 im besonderen) das Licht im Turm für mich ein und ermöglichte mir so den abenteurlichen Aufstieg über die baufällige Treppe. Von der Turmhöhe fiel mein Blick auf die gegenüber, im Westen gelegene Burg Ludwigstein, und auf die monströsen Grenzanlagen zwischen diesen beiden steinernen Zeugen deutscher Geschichte. Dass ich an diesem Tag selbst Zeuge dieser Geschichte wurde, kam mir erst sehr viel später so richtig zu Bewusstsein.

 


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